„Software muss dringend monetarisiert werden!“

Im Interview: Joachim Mathes, CTO der Valeo Brain Division

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Der Markt für softwarezentrierte Mobilität wird sich stark verändern. Auch für traditionelle
Zulieferer wie Valeo sind deshalb neue Geschäftsmodelle und Strategien notwendig, um diese Transformation erfolgreich zu meistern. Welche Geschäftsmodelle Valeo für Software-defined Vehicles zukünftig plant, erklärt Joachim Mathes, CTO der Valeo Brain Division, im Interview mit AEEmobility.


AEEmobility: Hr. Mathes, zukünftig wird sich bei SW-zentrierter Mobilität die Branche von klassischen
OEM-Zulieferer-Beziehungen hin zu Kooperationen mit vielen Playern der Wertschöpfungskette entwickeln. In welcher Rolle sieht sich dabei Valeo?

Joachim Mathes: In der heutigen Automobilindustrie sind verschiedene, sich ergänzende Modelle notwendig. Früher war ein einzelner Systemlieferant für alle Pflichten und Verantwortungen zuständig. Zukünftig wird es aus meiner Sicht mehrere, sich ergänzende Modelle geben, die sich letztlich auf vier Säulen stützen – Hardware-Komponenten, Architekturen, Software-Stacks und Services.

Auch ein Software-defined Vehicle (SDV) besteht aus Hardware-Komponenten wie Kameras, Radar- und LIDAR-Sensoren oder Head-up-Displays. Darüber hinaus sind unterschiedliche Rechnerarchitekturen wie Domänen-, Zonen- oder Zentralrechner relevant. Diese Hardware-Plattformen entwickeln wir derzeit weltweit gemeinsam mit unseren Kunden.

Neben der Hardware spielen Software-Komponenten eine zentrale Rolle. Dies beginnt mit der hardware-nahen Middleware. Alle Elemente sind dabei so modular konzipiert, dass sie sich ergänzen und kritische Signalflüsse in Bezug auf Latenzen oder Bandbreiten berücksichtigen. Zum Beispiel kann ein Umfeldwahrnehmungsmodul aus dem Software-Stack herausgelöst werden, während die vertikale Integration von Umfeldmodell, Datenfusion und Kundenfunktionen weiterhin vollständig angeboten wird.

Ein weiterer wichtiger Aspekt sind in diesem Zusammenhang auch Services wie Systemintegration und Systemvalidierung. Wir betrachten die Software-Plattform als Service und bieten diese Funktionalität auch separat für unsere Kunden an.

Joachim Mathes ist CTO der Valeo
Brain Division.



Der Wettbewerb im Bereich SDV wird intensiver, da neue Akteure wie Technologieunternehmen und
Softwareentwickler in den Markt eintreten. Wie kann sich Valeo von solchen Wettbewerbern abheben?

Wir sind ein Automobilunternehmen mit einer 100-jährigen Geschichte und kennen die Bedürfnisse der Branche sehr gut. Ein Auto ist kein Smartphone auf Rädern, denn wer besitzt schon ein Smartphone, das über 10 Jahre alt ist? Im Vergleich zur Konsumelektronik haben Fahrzeuge viel längere Lebenszyklen. Das durchschnittliche Alter von Fahrzeugen weltweit liegt bei deutlich über 10 Jahren. Daher ist es wichtig, Fahrzeuge auch über so lange Zeiträume sicher auf der Straße zu halten.

Wir sehen uns als vertrauenswürdigen Partner der OEMs, weil wir das gesamte Fahrzeug und seine Subsysteme verstehen. Dadurch sind wir gut positioniert und unterscheiden uns von reinen Softwarefirmen, die vielleicht als Startups entstanden sind. Zwar stehen wir im Wettbewerb mit solchen Firmen, aber unser Geschäftsmodell basiert auf den genannten vier Säulen, die sich gegenseitig unterstützen. Das hat für Automobilhersteller einen hohen Wert.


Wie verändert Software als Produkt und Dienstleistung (SaaS) im „Software Defined
Vehicle“ das Geschäftsmodell für Pkw-Hersteller und Endkunden?

Wie das Geschäftsmodell für Software-defined Vehicles (SDVs) letztlich aussehen wird, kann ich nicht vorhersagen. Klar ist jedoch, dass wir uns in einem Wandel befinden und bestehende Modelle nicht ohne weiteres zu übertragen sind. Die Erwartungen der Endkunden ändern sich bereits, wodurch auch die Automobilhersteller (OEMs) gezwungen sind, zu reagieren. Der Umsatz aus dem Verkauf oder der Lizenzierung von Software wird heute oft mit sehr hohen Beträgen veranschlagt. Dem gegenüber steht eine geringe Bereitschaft der Endkunden, für reine Software-Funktionen zu bezahlen.

Ich sehe mit Sorge, dass die Mobilität, also die Anschaffungs- und Betriebskosten eines Fahrzeugs, immer teurer wird und es nach oben hin kaum noch Spielraum gibt. Dennoch müssen SDVs eine standardisierte Hardware haben, die einen gewissen Overhead für Funktionen aufweist, die erst in einigen Jahren integriert werden. Diese Aufwände müssen schon heute gemacht und bezahlt werden. Auch die Weiterentwicklung der Software, etwa in Bezug auf Cybersicherheit, erfordert Investitionen, die derzeit nicht im Geschäftsmodell enthalten sind. Ich frage mich schon, wer diese Kosten in Zukunft tragen wird.

Sie sind Anfang des Jahres dem SDVerse Vehicle Software Marketplace beigetreten. Wie ist der Status? Gibt es hier schon erste Projekte?

Der Marketplace ist ein völlig neuer Ansatz für den Kauf und Verkauf von Software im Automobilbereich, der für alle OEMs, Zulieferer und andere Unternehmen mit relevanten Softwareangeboten und -tools verfügbar ist. Es ist sehr wichtig, neue Modelle der Zusammenarbeit zu entwickeln und Skaleneffekte über verschiedene OEMs hinweg zu nutzen. Mit dem Marketplace wollen wir auch neue Dinge ausprobieren und testen. Zu Beginn werden wir einfache Module aus unserem Sortiment zum Kauf anbieten, um zu sehen, wie sie in der Praxis funktionieren. Wir möchten herausfinden, wie gut die Käufer damit zurechtkommen und wie viel Aufwand wir für die Betreuung benötigen. Aus diesem Grund engagieren wir uns auch bei Eclipse SDV.


Valeo hat sich den Gründern GM, Magna und Wipro sowie anderen Startpartnern angeschlossen, um Softwareentwickler und Mobilitätsakteure in einer Matchmaking-Plattform zusammenzubringen, die auf Transparenz und Interoperabilität abzielt. Die Plattform mit dem Namen SDVerse soll den Beschaffungsprozess für Automobilsoftware revolutionieren, indem sie Käufern und Verkäufern von eingebetteter Automobilsoftware eine Matchmaking-Plattform bietet. Valeo, das über eines der größten Software-Angebote auf dem Markt, einschließlich Embedded Software sowie Software-as-a-Product und Software-as-a-Service verfügt, wird ihre Softwarelösungen noch in diesem Jahr in die neu angekündigte Plattform einbringen.


Welche grundlegenden Veränderungen bei Prozessen, Methoden und Tools sind für die Umsetzung des Software-definierten Fahrzeugs aus Ihrer Sicht notwendig? Welche Rolle spielt Open Source Software bei Valeo?

Grundsätzlich würde ich mir sehr viel mehr Open Source wünschen, weil ich glaube, dass wir damit wieder die Effizienz erlangen, die wir uns in der Vergangenheit erarbeitet haben und die im Augenblick ein Stück weit in Frage gestellt ist. Mit Open Source können wir Synergien heben und attraktiv für Entwickler sein. Bei Open Source gibt es bereits mehrere Initiativen, wie zum Beispiel die Eclipse Foundation, die zwar in der Industrie breit getragen werden, aber noch nicht die Anziehungskraft für OEMs haben. Was ich derzeit sehe, ist, dass OEMs eher proprietäre Lösungen auf die Straße bringen. Wann das Pendel in Richtung Open Source schwingt, halte ich für schwer prognostizierbar. Aber die Richtung ist definitiv die Richtige. Daher engagieren wir uns bei Valeo auch in den entsprechenden Arbeitskreisen für Open Source Software.

Chinesische Hersteller scheinen bei diesem Thema schon weiter zu sein.

Das sehe ich genauso. Besonders die chinesische Regierung setzt starke Impulse. Ich befürchte, dass wir dadurch etwas ins Hintertreffen geraten. Uns Europäern fehlt bei diesem Thema oft die Geschwindigkeit, die Entschlossenheit und auch ein gewisses Maß an Risikobereitschaft.

Wie gewährleistet Valeo die Skalierbarkeit seiner Softwarelösungen über verschiedene Fahrzeugklassen und -modelle hinweg und wie wird die Kompatibilität mit unterschiedlichen Hardwaresystemen und unterschiedlichen Softwarekomponenten sichergestellt?

Der Markt wird sich in verschiedene Segmente mit unterschiedlichen Funktionen und Preisen aufteilen. Eine Lösung, die für ein Segment optimal ist, passt nicht zwangsläufig zu anderen. Es ist nicht wirtschaftlich, für jedes Segment und jede Region separate Hardware und Software zu entwickeln. Insofern ist auch die zunehmende Entkopplung des chinesischen Marktes eine wirtschaftliche Herausforderung.

Eine wichtige Frage ist aber auch, wie weit man die Software auf die Hardware optimieren sollte. Dabei darf man den Lebenszyklus der Fahrzeuge nicht vergessen. Was passiert mit einem 10 Jahre alten Chip? Wenn die Software stark an die Hardware angepasst ist, muss der Chip auch in 10 oder vielleicht sogar 20 Jahren noch verfügbar sein oder die Software muss so lange unterstützt werden. Geschäftsmodelle aus dem Consumer-Bereich passen im Automobil nicht immer. Wie eingangs erwähnt: Wer hat schon ein 10 Jahre altes Smartphone? Deshalb setzen wir auf standardisierte Hardware, eine modulare Architektur und Software sowie eine Abstraktion von Hardware und Software, soweit dies technisch möglich ist. Dadurch können Hardware-Upgrades später einfach durchgeführt werden, z.B. durch austauschbare Module oder Cartridges. Für den Endkunden bedeutet das, er kann in Zukunft beim Händler ein Hardware-Update vornehmen lassen. Das muss aber auch die Software zulassen. Solche Konzepte sind derzeit bei uns in der Entwicklung.

Sie erwähnten den langen Lebenszyklus von Fahrzeugen. Welche Herausforderungen ergeben sich dabei im Hinblick auf die Cybersicherheit bei der zunehmenden Vernetzung von Fahrzeugen und der Nutzung von Over-the-Air-Updates? Wo stehen wir heute?

Alle Beteiligten müssen den ISO-Standard konsequent umsetzen. Wir haben gesehen, dass Fahrzeuge vom Markt genommen werden mussten oder nicht mehr verkauft werden, wenn Sicherheitsstandards nicht eingehalten wurden. Ich glaube, dass das Prinzip „Security-by-Design“ mit den nächsten Elektronikarchitekturen besser umgesetzt wird.

Allerdings mache ich mir, wie eingangs erwähnt, Sorgen um die Preisgestaltung. Was ist ein Endkunde bereit, für Sicherheit zu zahlen? Wahrscheinlich nichts. OEMs und Tier-1-Zulieferer haben jedoch Kosten, die gedeckt werden müssen. Deshalb ist es notwendig, die Software zu monetarisieren. Wie das genau aussehen soll, kann ich noch nicht sagen. Ein wichtiger Schritt dahin ist aber die Nutzung gemeinsamer Standards, um Aufwand und Kosten zu reduzieren. (oe)

Herr Mathes, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Das Interview führte Klaus Oertel, Chefredakteur der AEEmobility.


Valeo und Seeing Machines, ein Unternehmen, das KI-gestützte Fahrerüberwachungssysteme entwickelt, gaben kürzlich eine strategische Zusammenarbeit für Fahrer- und Insassenüberwachungssysteme bekannt. Im Rahmen dieser Vereinbarung überträgt Valeo seine Aktivitäten im Bereich der Fahrerüberwachungssoftware an Seeing Machines. Diese Aktivität, die aus der damit verbundenen Übernahme des deutschen Start-up-Unternehmens Asaphus, das sich im Besitz von Valeo befindet, hervorgegangen ist, wird nun von Seeing Machines geleitet. Darüber hinaus wird Asaphus das Seeing Machines-Team mit IP und Daten sowie einer kleinen, hochspezialisierten Entwicklungsgruppe erweitern.